Die Lektorin Julia möchte ihre Einsamkeit beenden und nimmt die Hilfe eines Partnerschaftsprogramms in Anspruch. Da sie im Rollstuhl sitzt, ist dies kein einfaches Unterfangen.
Leseprobe:
… Nach einer unruhigen Nacht begann der Morgen dann doch wie viele andere. Julias Mutter klopfte an ihre Zimmertür und versuchte sie mit aufmunternden Worten locker in den Tag zu bringen.
„Ja, ich bin schon wach. Kannst du mir gleich helfen?“
„Aber ja“, antwortete ihre Mutter und stand schon in der Tür. Das hatte sie sich im Laufe der Zeit so angewöhnt. Sie betrat morgens ihr Zimmer erst nach der Aufforderung dazu. Schon zu oft hatte ein zu schnelles Eintreten am frühen Morgen für einen verärgerten Start in den Tag geführt. Das ging nun schon eine ganze Weile so.
Während des letzten Schuljahres vor den Abiturprüfungen hatte sie ein Praktikum im ortsansässigen Verlag absolviert. Hier reifte damals bei ihr der Gedanke, einmal etwas mit vielen Büchern zu erlernen. So beschloss sie nach Rücksprache mit ihren Eltern, nach dem Abitur eine Ausbildung in entsprechender Richtung aufzunehmen. Sie hatte sich entsprechend beworben und kurz vor Beendigung der Schulzeit die Zusage doch noch erhalten. Gerechnet hatte sie damit schon nicht mehr, da sie sich ja sehr spät beworben hatte. Sie hatte den Ausbildungsplatz zur Lektorin. Und dann schien alles auf einmal so einfach. Ihre gleichzeitige Anfrage nach einem Job im Verlag, um ihre Finanzen zu verbessern, wurde positiv beantwortet.
So arbeitete sie in ihren letzten Ferien an zwei Tagen in der Woche im Verlag. Viel Geld brachte ihr dies zwar nicht ein, aber sie konnte dort viel lernen. Hauptsächlich nahm sie während dieser Zeit Korrekturlesungen von eingesandten Manuskripten vor. Die Arbeit im Verlag verlangte von ihr und ihren Eltern an diesen Tagen einen hohen Aufwand, war sie doch seit einem Unfall in den Ferien vor einigen Jahren an einen Rollstuhl gebunden. Anfänglich war für sie alles aussichtslos, aber mit vielseitiger Hilfe war es gelungen, ihre Lebensfreude wiederzuerwecken. So benötigt sie heute nur noch besondere Hilfe im Bad, beim zu Bett gehen und beim Aufstehen.
Die Ausbildung verlief zufriedenstellend. Ihr großer Wille war wie ein Motor der besonderen Art.
Der Verlag war ihr, so weit es machbar war, an den praktischen Tagen entgegengekommen und sie konnte sich einen Heimarbeitsplatz einrichten. Mittlerweile arbeitete sie nur noch in Heimarbeit und ihre positive Art und Zuverlässigkeit führten dazu, dass dies auch nicht mehr geändert wurde.
Dass dieser Tag anders verläuft, merkte ihre Mutter sofort, denn Julia war außerordentlich gesprächig.
„Ich muss dir etwas erzählen, was mich besonders bedrückt“, begann sie mit leiser Stimme und wartete ab, bis sich ihre Mutter dazugesetzt hatte.
„Ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.“
„Erzähl doch erst einmal und dann schauen wir, was wir machen können“, antwortete ihre Mutter mit ruhiger Stimme und wartete in gewohnter Gelassenheit Julias Erklärung ab. Die begann sofort, ihrer Mutter die Geschehnisse der letzten Zeit darzulegen. Sie sprach von ihrem Job, vom Autor des Kriminalromans, der sie so gepackt hatte, von ihrer Einsamkeit und dem Wunsch nach einem Partner sowie ihrer Anmeldung und den Stand der Dinge bei der Partnerschafts-App. Mit einer etwas aufgeregterer Stimme kam sie dann zu Niklas und seinem plötzlichen Fernbleiben. Beim besorgten Erzählen von Niklas war ein Leuchten in ihren Augen zu erkennen, was ihrer Mutter natürlich nicht entgangen war. So nahm sie sich alle Zeit, Julia ausgiebig von ihrer Entdeckung in der App und auch den Stand des Kennenlernens erzählen zu lassen. Abschließend, mit den traurig wiederholenden Worten: „Und ich weiß jetzt nicht, was ich machen soll.“, beendete Julia ihre sorgenvolle Rede über die Geschehnisse der letzten Stunden.
Nun war ihre Mutter aufgestanden und strich ihr leicht über das Haar.
„Erinnere dich an deine schweren Stunden und Tage nach deinem Unfall. Mach dich nicht unnötig verrückt. Wenn er dich genauso mag, wie du es gerade beschrieben hast, dann wird er sich auch bald wieder melden. Sicher gibt es einen einfachen Grund für sein wegbleiben. Bleibe ruhig und vertraue deinen Gefühlen. Konzentriere dich auf deine Arbeit und du wirst sehen, wie schnell die Ungewissheit vorübergehen wird.“
„Du hast gut reden, ich kann nicht so schnell zum Alltag zurückkehren“, seufzte sie mit leisen Worten.
„Doch, du kannst das“, antworte ihre Mutter, wobei sie ihr tief in die Augen sah. Voller Zuversicht verließ sie Julias Zimmer.
Nach ein paar Minuten der Besinnung begann Julia ihren Arbeitstag, wie gewöhnlich. Sie rollte zu ihrem Arbeitstisch und drückte an ihrem Rechner auf die Starttaste. Keine Minute später war dieser hochgefahren und mit wenigen Klicks war sie im aktuellen Kriminalroman an der Stelle, wo sie gestern abgebrochen hatte. Dabei stellte sie fest, dass sie den Autor ihres aktuellen Falls beneiden könnte. Der beherrscht seine Szenerie in allen Situationen und weiß immer, was in welchem Moment zu tun ist.
Aber weiß er das wirklich?